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Sozialauswahl: Rentennähe zu berücksichtigen

12.12.2022

Bei einer betriebsbedingten Kündigung hat die Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers anhand der in § 1 Absatz 3 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) beziehungsweise § 125 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 Insolvenzordnung (InsO) genannten Kriterien zu erfolgen. Bei der Gewichtung des Lebensalters kann hierbei laut Bundesarbeitsgericht (BAG) zulasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gelte, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen dürfe insoweit nicht berücksichtigt werden.

Die 1957 geborene Klägerin war seit 1972 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah. Als zu kündigende Arbeitnehmerin war die Klägerin in der Namensliste genannt. Mit Schreiben vom 27.03.2020 kündigte der beklagte Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2020.

Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Der beklagte Insolvenzverwalter ist der gegenteiligen Ansicht. Die Klägerin sei in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 01.12.2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b Sozialgesetzbuch VI – SGB VI) zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück.

Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat vereinbarte der beklagte Insolvenzverwalter mit diesem Ende Juni 2020 wegen der nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung nach Ausproduktion zum 31.05.2021 einen zweiten Interessenausgleich mit Namensliste. Der beklagte Insolvenzverwalter kündigte der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29.06.2020 zum 30.09.2020. Die Klägerin erhob auch gegen diese Kündigung Kündigungsschutzklage.

Das Arbeitsgericht hat beiden Kündigungsschutzanträgen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des beklagten Insolvenzverwalters zurückgewiesen. Die Revision des beklagten Insolvenzverwalters hatte vor dem BAG nur teilweise Erfolg.

Dieses befand die erste Kündigung vom 27.03.2020 wie die Vorinstanzen im Ergebnis für unwirksam. Allerdings hätten die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium "Lebensalter" berücksichtigen dürfen. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium "Lebensalter" sei dabei ambivalent.

Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie falle aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese Umstände könnten der Arbeitgeber beziehungsweise die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium "Lebensalter" zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigten ihnen § 1 Absatz 3 KSchG, § 125 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu.

Die streitbefangene Kündigung vom 27.03.2020 war laut BAG im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien "Betriebszugehörigkeit" und "Unterhaltspflichten" erfolgt und deswegen grob fehlerhaft gewesen sei. Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29.06.2020 hatte die Revision des beklagten Insolvenzverwalters demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung sei wirksam und habe das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30.09.2020 aufgelöst, so das BAG.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.12.2022, 6 AZR 31/22

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