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Im Insolvenzfall: Reemtsma-Direktanspruch auf Vorsteuererstattung

30.10.2025

Bei zu Unrecht in Rechnung gestellter und abgeführterUmsatzsteuer kann der Leistungsempfänger bei Insolvenz des Leistenden die zuviel gezahlte Umsatzsteuer statt vom Leistenden im Billigkeitswege sofort undin voller Höhe gegenüber dem Finanzamt geltend machen. Er ist nicht gehalten,seinen Anspruch zunächst zur Insolvenztabelle anzumelden und abzuwarten, mitwelchem Bruchteil sein Anspruch im Insolvenzverfahren erfüllt wird. So dasFinanzgericht (FG) Baden-Württemberg.

Die Klägerin, eine in der Schweiz ansässige SchweizerAktiengesellschaft, wird beim beklagten Finanzamt umsatzsteuerlich geführt. Inden Streitjahren 2010 und 2011 unterhielt sie Geschäftsbeziehungen zu dem inInsolvenz geratenen Unternehmen C mit Sitz in Deutschland: C erbrachte Dienstleistungenan die Klägerin. Letztere rechnete 2010 und 2011 über diese imGutschriftverfahren unter gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer ab. DerLeistungsort befand sich jedoch nach § 3a Absatz 2 Satz 1 Umsatzsteuergesetz(UStG) am Sitz der Klägerin in der Schweiz. Diese bezahlte die Rechnungsbeträgebrutto an C und machte die gezahlte Umsatzsteuer beim Finanzamt als Vorsteuergeltend. C führte die Umsatzsteuer an das Finanzamt D im Inland ab. Im Rahmendes noch laufenden Insolvenzverfahrens über Cs Vermögen stellten dieInsolvenzverwalter einen Antrag auf Erstattung der zu Unrecht abgeführtenUmsatzsteuer beim Finanzamt D. Dieses Erstattungsverfahren war im Zeitpunkt dervorliegenden Entscheidung noch nicht abgeschlossen.

Die Klägerin zahlte ihrerseits die ihr erstattete Vorsteuerim Februar 2015 an das Finanzamt zurück. Im April 2016 beantragte sie, ihr denVorsteuerabzug aus den Gutschriften der Jahre 2010 und 2011 im Billigkeitswegenach § 163 Abgabenordnung (AO) zu gewähren. Das lehnte das Finanzamt ab. Diehiergegen erhobene Klage hatte Erfolg.

Die Klägerin habe einen Anspruch auf Vorsteuerabzug aus denGutschriften der C im Billigkeitswege, weil das dem Finanzamt eingeräumteErmessen auf eine niedrigere Steuerfestsetzung nach § 163 AO auf null reduziertsei, so das FG. Unter Berücksichtigung der Prinzipien derMehrwertsteuersystemrichtlinie, insbesondere des Grundsatzes der Neutralität,und der Verpflichtung Deutschlands, das deutsche Recht so anzuwenden, dass dieEffektivität des europäischen Rechts gewährleistet ist, sei es geboten, dieUmsatzsteuer im Billigkeitswege niedriger festzusetzen.

Der Grundsatz der Neutralität im Umsatzsteuerrecht besage,dass Unternehmer vollständig von der im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeitgeschuldeten oder entrichteten Umsatzsteuer zu entlasten sind. Gewährleistetsei dies im Regelfall durch das Recht auf Vorsteuerabzug, das nach derRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) grundsätzlich nichteingeschränkt werden könne. Hier sei die Neutralität der Umsatzsteuer in Fragegestellt, weil die Klägerin zwar Zahlungen an C geleistet habe, die einen Umsatzsteueranteilenthielten, der von C auch an die Finanzverwaltung abgeführt worden sei.Gleichwohl habe sie keinen Vorsteuerabzug, weil dieser nur bei tatsächlichgeschuldeter Umsatzsteuer möglich sei. Sie habe zu Unrecht in ihrenGutschriften (Rechnungen) Umsatzsteuer ausgewiesen, die C vereinnahmt und andie Finanzverwaltung abgeführt habe.

In dieser Konstellation stellt sich für das FG die Frage,wie die Neutralität der Umsatzsteuer gewährleistet werden kann. Konstruktivgebe es hierfür zwei Möglichkeiten: Entweder erfolge die Abwicklung "übersEck", also entlang der Leistungs- beziehungsweise Rechtsbeziehungen. Dieswürde bedeuten, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrechtbezahlten Umsatzsteuer gegen C habe und dieser wiederum einenSteuererstattungsanspruch gegen den Fiskus. Alternativ könnte der Klägerin einDirektanspruch gegen die Finanzverwaltung zugebilligt werden.

Die Rechtsprechung halte die erstgenannte Lösung fürgrundsätzlich angemessen, sehe in Sonderfällen allerdings die Erforderlichkeit,einen Direktanspruch zuzubilligen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seitder Rechtssache Reemtsma Cigarettenfabriken (Urteil vom 15.03.2007, C-35/05)stünden die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und derNichtdiskriminierung nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, nach denennur der Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrechtals Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden habe und derDienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung der nichtgeschuldeten Leistung gegen diesen Dienstleistungserbringer erheben könne. Fürden Fall, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßigerschwert werde, müssten die Mitgliedstaaten jedoch, um den Grundsatz derEffektivität zu wahren, die erforderlichen Mittel vorsehen, die es demDienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellteSteuer erstattet zu bekommen, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit desDienstleistungserbringers.

Der Bundesfinanzhof (BFH) habe aufgrund dieser EuGH-Leitlinienentschieden, dass der Leistungsempfänger zwar selbst keinen Erstattungsanspruchnach § 37 Absatz 2 AO habe, die Billigkeitsregelungen der §§ 163 und 227 AOaber eine hinreichende Möglichkeit böten, trotz Fehlens dermateriell-umsatzsteuerrechtlichen Voraussetzungen den Vorsteuerabzug –jedenfalls im wirtschaftlichen Ergebnis – geltend zu machen, um so den imInsolvenzverfahren nicht zu realisierenden Teil der gegen denRechnungsaussteller gerichteten, zivilrechtlichen Forderung vom Finanzamtgutgebracht zu bekommen (Urteil vom 30.06.2015, VII R 30/14).

Das Finanzamt verstehe die letztgenannte Entscheidung so,dass der Leistungsempfänger vorrangig im Insolvenzverfahren versuchen müsse,die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer von seinemzivilrechtlichen Vertragspartner, dem Leistenden (hier: C), erstattet zuerhalten. Einen Direktanspruch habe er nur in dem Umfang, in dem seineForderung wegen nicht ausreichender Masse ausfalle. Dem folgt das FG nicht. Eshält es für sachgerecht, im Insolvenzfall dem Leistungsempfänger sofort und involler Höhe einen Direktanspruch zuzubilligen.

Die Ansicht des Finanzamtes sei nicht geeignet, dieeuroparechtlich gebotene Neutralität der Umsatzsteuer und die Effektivität deseuropäischen Rechts zu gewährleisten. Sie habe zur Folge, dass derLeistungsempfänger unter Umständen viele Jahre warten müsse, bis er seinen nachder EuGH-Rechtsprechung letztlich unzweifelhaft bestehenden Anspruch aufRückzahlung der geleisteten Umsatzsteuer geltend machen könne. Dies belege dasvorliegende Verfahren eindrücklich. Das Insolvenzverfahren sei seit nunmehrüber elfeinhalb Jahren anhängig. Es sei mit einer nicht unerheblichen Fortdauerdes Verfahrens zu rechnen. Während dieser Zeit sei der Fiskus ungerechtfertigtbereichert. Denn unstreitig habe er die von C abgeführte Umsatzsteuer zuerstatten, sei es an C, sei es an die Klägerin. Die lange Verfahrensdauerentziehe dem letztlich mit der Steuer belasteten Unternehmer Liquidität, ohnedass es hierfür einen rechtfertigenden Grund gebe. Vor diesem Hintergrund seidie Klägerin nicht gehalten gewesen, ihren Anspruch gegen C zurInsolvenztabelle anzumelden und zunächst abzuwarten, mit welchem Bruchteil derAnspruch im Insolvenzverfahren erfüllt würde, bevor sie einen Direktanspruchgegen den Beklagten geltend mache.

Das FG meint, der Erstattungsanspruch des Leistenden gegendas Finanzamt sei auch im Fall einer Insolvenz nur gegeben, wenn er zuvor diein der Rechnung zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer an den Leistungsempfängerzurückbezahlt habe. Der BFH habe ausdrücklich auch in Fällen der Insolvenz dieRückzahlung des berichtigten Steuerbetrags vom Leistenden an denLeistungsempfänger verlangt (Urteil vom 16.05.2018, XI R 28/16 sowie Beschlussvom 05.01.2021, XI S 20/20).

Bei richtiger Sachbehandlung bestehe daher nicht die Gefahr,dass die Finanzverwaltung die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuerzweimal erstatten müsse. Denn der Erstattungsanspruch des insolventenLeistenden stehe unter der aufschiebenden Bedingung, dass er seinerseits die zuUnrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer dem Leistungsempfänger erstattet.Dies sei ihm aufgrund der insolvenzrechtlichen Bestimmungen unmöglich, so dasFG.

Gegen das Urteil des FG wurde Revision eingelegt. Diese istbeim Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen V R 31/24 anhängig.

Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 06.12.2023, 14 K1423/21, nicht rechtskräftig

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