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"Wittenberger Sau": Muss nicht entfernt werden

20.06.2022

Die "Wittenberger Sau" – das an der Außenfassade der Wittenberger Stadtkirche angebrachte Sandsteinrelief – muss nicht entfernt werden. Dies hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden.

Die beklagte Kirchengemeinde ist Eigentümerin der Kirche, an deren Außenfassade sich seit etwa 1290 ein Sandsteinrelief befindet. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden. Ein ebenfalls durch seinen Hut als Jude zu identifizierender Mensch hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. 1570 wurde in Anlehnung an zwei von Martin Luther 1543 veröffentlichte antijudaistische Schriften über der Sau die Inschrift "Rabini Schem Ha Mphoras" angebracht.

1983 entschied der Gemeindekirchenrat im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche, das Relief an seinem Ort zu belassen und ebenfalls zu sanieren. Am 11.11.1988 wurde unter dem Relief eine in Bronze gegossene quadratische Bodenreliefplatte mit einer Inschrift eingeweiht. Der Text der Inschrift lautet: "Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen". In Hebräischer Schrift ist darüber hinaus der Beginn von Psalm 130 wiedergegeben, der – übersetzt – lautet: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir". Auf einem in unmittelbarer Nähe angebrachten Schrägaufsteller heißt es unter der Überschrift "Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg":

"An der Südostecke der Stadtkirche Wittenberg befindet sich seit etwa 1290 ein Hohn- und Spottbild auf die jüdische Religion. Schmähplastiken dieser Art, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigen – Tiere, die im Judentum als unrein gelten – waren besonders im Mittelalter verbreitet. Es existieren noch etwa 50 derartige Bildwerke. Judenverfolgungen fanden in Sachsen Anfang des 14. Jahrhunderts und 1440 statt, 1536 wurde Juden der Aufenthalt in Sachsen grundsätzlich verboten. Martin Luther veröffentlichte 1543 die antijudaistischen Schriften `Von den Juden und ihren Lügen` und `Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, auf die sich die Inschrift der Schmähplastik bezieht. Sie wurde 1570 angebracht wie der lateinische Text an der Traufe, der die von Martin Luther angestoßene Reformation mit der Tempelreinigung Jesu (Matthäus 21) gleichsetzt und gegen `Papisten polemisiert.

Das Mahnmal unterhalb der Schmähplastik wurde im November 1988 enthüllt, 50 Jahre nach dem Beginn der Judenpogrome im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland. Die in Bronze gegossene Bodenplatte zeigt vier gegeneinander verkippte Trittplatten, die aussehen, als seien sie in morastigem Untergrund verlegt. Die Fugen ergeben ein Kreuzeszeichen. Der umlaufende Text verbindet die Inschrift der Schmähplastik mit dem Holocaust: ``Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen. Dazu steht in hebräischer Schrift der Beginn von Psalm 130: `Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir`. Die Bronzeplatte entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel. Die Umschrift verfasste der Schriftsteller Jürgen Rennert."

Der Kläger ist Jude und Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Er verlangt von der Beklagten in erster Linie die Entfernung des Sandsteinreliefs; für den Fall, dass der Beklagten dies aus Denkmalschutzgründen nicht möglich sein sollte, begehrt er hilfsweise die Feststellung, dass das Relief den objektiven und subjektiven Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 Strafgesetzbuch erfüllt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt dieser seine Klageanträge weiter.

Die Revision hatte keinen Erfolg. Der Kläger kann laut BGH nicht die Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen. Es fehle an der erforderlichen gegenwärtigen Rechtsverletzung. Zwar habe das Relief jedenfalls bis zur Verlegung der in Bronze gegossenen Bodenreliefplatte am 11.11.1988 einen das jüdische Volk und seine Religion massiv diffamierenden Aussagegehalt aufgewiesen und Judenfeindlichkeit und Hass zum Ausdruck gebracht. Es habe zur Zeit seiner Entstehung und auch noch im 16. Jahrhundert, als es durch die Inschrift "Rabini Schem Ha Mphoras" ergänzt wurde, dazu gedient, Juden verächtlich zu machen, zu verhöhnen und auszugrenzen. Das Schwein gelte im Judentum als unrein; in der christlichen Kunst des Mittelalters verkörpere es den Teufel. Den diffamierenden Aussagegehalt habe das Relief jedenfalls auch noch bis zur Verlegung der Bronzeplatte gehabt, so der BGH.

Der Kläger sei auch aktivlegitimiert; er sei berechtigt, den Aussagegehalt des Reliefs gerichtlich zu beanstanden. Isoliert betrachtet verhöhne und verunglimpfe das Relief das Judentum als Ganzes. Durch eine solche Darstellung werde unmittelbar auch der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen. Denn diese Personengruppe sei durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer Einheit verbunden, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lässt. Die in dem beanstandeten Relief jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende diffamierende Aussage sei der Beklagten zuzurechnen. Dabei konnte laut BGH offenbleiben, ob dies allein deshalb der Fall ist, weil die Beklagte das Relief nicht von der Fassade ihres Kirchengebäudes entfernt hat. Denn die Beklagte habe sich durch ihren Gemeindekirchenrat 1983 entschieden, das Relief im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche an seinem Ort zu belassen und zu sanieren.

Sie habe den jedenfalls bis zum 11.11.1988 bestehenden rechtsverletzenden Zustand aber dadurch beseitigt, dass sie unter dem Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene Bodenplatte mit der oben dargestellten Inschrift enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen Schrägaufsteller mit der Überschrift "Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg" angebracht hat, der den historischen Hintergrund des Reliefs und die Bronzeplatte näher erläutert. Aus der maßgeblichen Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Betrachters habe sie das bis dahin als Schmähung von Juden zu qualifizierende Sandsteinrelief – das "Schandmal" – in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah umgewandelt und sich von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage – wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommt – distanziert.

Anders als der Kläger meint, könne der von dem Sandsteinrelief ausgehende rechtsverletzende Zustand nicht allein durch Entfernung des Reliefs beseitigt werden. Auch wenn das Relief von Anfang an und immer nur der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden diente und kaum eine bildliche Darstellung denkbar ist, die in höherem Maße im Widerspruch zur Rechtsordnung steht, gebiete die Rechtsordnung nicht seine Beseitigung. Vielmehr habe mehr als diese eine Möglichkeit bestanden, die von ihm ausgehende rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen. Die Umwandlung des "Schandmals" in ein Mahnmal und in ein Zeugnis für die Jahrhunderte währende judenfeindliche Geisteshaltung der christlichen Kirche sei eine der Möglichkeiten, den rechtsverletzenden Aussagegehalt zu beseitigen.

Aber auch, wenn man annähme, die Beklagte habe sich durch die Enthüllung der in Bronze gegossenen Bodenplatte und die Aufstellung des Schrägaufstellers noch nicht hinreichend von der im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommenden Aussage distanziert, könnte der Kläger nicht die – allein begehrte – Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen, betont der BGH. Bestehen, wie im Streitfall, mehrere Möglichkeiten, eine rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen, müsse es dem Schuldner überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 14.06.2022, VI ZR 172/20

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