Mitglied werden
Suche
Vor Ort
Presse
Menü

Veränderung pro Sekunde

Login
Menü schließen

Menü schließen

Sie sind hier:  Startseite  Bayern  Newsticker-Archiv    Vorhalten von Verdachtsberichterstattung...

Vorhalten von Verdachtsberichterstattung in Online-Pressearchiven: Grundsätzlich zulässig

04.08.2020

Die ursprüngliche Zulässigkeit einer Berichterstattung ist ein entscheidender Faktor für die Zulässigkeit einer über das Internet zugänglichen Archivierung. Im Normalfall rechtfertigt sie eine unveränderte öffentliche Bereitstellung auch noch nach langer Zeit. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen zum so genannten Recht auf Vergessen bekräftigt und hinzugefügt, für die Verdachtsberichterstattung entsprächen dem besonders gesteigerte Anforderungen an die ursprüngliche Veröffentlichung solcher Berichte, die deren öffentliches Vorhalten im Regelfall auch langfristig trügen.

In Ausnahmefällen könne das Vorhalten einer ursprünglich berechtigten Verdachtsberichterstattung durch Zeitablauf oder durch zwischenzeitlich hinzugekommene Umstände eine die betroffene Person aber derart belastende Dimension gewinnen, dass daraus Löschungs-, Auslistungs- oder Nachtragsansprüche erwachsen könnten. Im zur Entscheidung stehenden Fall sah das BVerfG hierfür aber keine Anhaltspunkte, weswegen es die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annahm, mit der sich der Beschwerdeführer gegen die zivilgerichtliche Zurückweisung eines Löschungsbegehrens gegenüber einem Pressearchiv gerichtet hatte.

Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des beanstandeten Presseberichts Unternehmensberater und unterstützte verschiedene Unternehmen bei der Erschließung ausländischer Märkte. In diesem Rahmen erhielt er für Beratungsleistungen unter anderem von der Firma Siemens Zahlungen im achtstelligen Bereich. 2007 erschien in der Europaausgabe einer englischsprachigen Tageszeitung im Zuge damals öffentlich gewordener Korruptionsermittlungen gegen leitende Mitarbeiter der Firma Siemens ein Artikel, der hauptsächlich am Beispiel des namentlich genannten Beschwerdeführers über die Rolle von Beratern bei der Beschaffung von Industrieaufträgen im Ausland berichtete. Seit einigen Jahren komme weltweit der Verteilung von Bestechungsgeldern über schwer zu durchschauende Kanäle durch Berater eine gesteigerte Bedeutung zu. Unter anderem berichtet der Artikel von den Beschwerdeführer belastenden Aussagen leitender Siemens-Mitarbeiter, gegen die zu dem Zeitpunkt strafrechtlich ermittelt wurde. Daneben erwähnt der Bericht, dass Siemens zu den Vorwürfen keine Stellung genommen habe, dass die Staatsanwaltschaft erklärt habe, dass der Beschwerdeführer weder befragt noch beschuldigt worden sei und dass er selbst die Vorwürfe abstreite und geltend mache, dass er mehrfach erfolglos Korruptionsfälle intern angezeigt habe. Ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wurde nicht eröffnet. Der Artikel ist in teilweise abgeänderter Form infolge teilstattgebender Gerichtsentscheidungen weiterhin online verfügbar.

Hinsichtlich des Verdachts, der Beschwerdeführer habe für die Firma Siemens Bestechungsgelder in großem Umfang an potentielle Kunden gezahlt, wiesen die Zivilgerichte das Unterlassungsbegehren des Beschwerdeführers ab. Es habe sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung um eine zulässige Verdachtsberichterstattung gehandelt. Auch das weitere Bereithalten des Berichts im Online-Archiv greife nicht rechtswidrig in das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers ein. Diese Beeinträchtigung sei in Anbetracht der Aufgabe der Presse, auch individualisierend über Ereignisse des Zeitgeschehens zu berichten, und des erheblichen öffentlichen Interesses an Bestechungsvorwürfen in Millionenhöhe gerechtfertigt. Der Antrag auf Ergänzung eines klarstellenden Nachtrags über die Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens sei prozessual verspätet und im Übrigen unbegründet.

Das BVerfG hat die Entscheidungen der Zivilgerichte verfassungsrechtlich bestätigt. Die Gerichte hätten erkannt, dass die Zulässigkeit des weiteren Vorhaltens eines Presseberichts im Lauf der Zeit Veränderungen unterliegen kann und im Zeitpunkt des Unterlassungsbegehrens durch Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich erheblichen Belange zu beurteilen ist. Auf dieser Grundlage seien sie zurecht davon ausgegangen, dass die ursprüngliche Zulässigkeit einer Veröffentlichung ein entscheidender Faktor der Beurteilung ist.

Auch davon abgesehen rechtfertige die besonders gesteigerte gesellschaftliche Bedeutung der in dem Artikel beschriebenen Vorgänge und des darin geäußerten Verdachts, den anlassgebenden Missstand an einem konkreten Beispiel fassbar und plastisch zu machen. Ebenfalls zutreffend hätten die Gerichte berücksichtigt, dass der beanstandete Bericht bei einer Suche anhand des vollständigen Namens des Beschwerdeführers nicht mit hoher Priorität kommuniziert wird. Es sei daher nicht erkennbar, dass Dritte bei einer unvoreingenommenen Namenssuche im Internet in unzumutbarer Weise auf den Bericht gestoßen und der Beschwerdeführer in seinem sozialen Umfeld in vergleichbar gravierender Weise auf die hier geäußerten Verdächtigungen festgelegt würde wie der Beschwerdeführer in dem Verfahren "Recht auf Vergessen I".

Schließlich seien die Gerichte zurecht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf einen klarstellenden Nachtrag mangels einer klar feststellbaren zwischenzeitlichen Veränderung der Sachlage, etwa eines Freispruchs oder einer Einstellung, nicht bestand. Aus dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Schreiben habe sich keine objektiv und ohne eigene Recherchen feststellbare Veränderung der Sachlage ergeben, über die die Beklagte des Ausgangsverfahrens in Gestalt des Nachtrags in sachlich-distanzierter Weise – ohne Revidierung des ursprünglich zulässig geäußerten Verdachts – hätte berichten müssen. Der Umstand allein, dass es nie zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kam, reiche für eine Zuerkennung von Nachtragsansprüchen nicht aus. Andernfalls käme im Bereich strafrechtlich erheblicher Sachverhalte der Nichteröffnung staatsanwaltlicher Verfahren die Wirkung zu, das Vorhalten zulässiger Verdachtsberichterstattung regelmäßig auszuschließen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 07.07.2020, 1 BvR 146/17

Mit Freunden teilen