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Recht auf Vergessenwerden: Rechtsprechungsänderung des BGH

28.07.2020

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in zwei Verfahren zum so genannten Recht auf Vergessenwerden entschieden. Er stellt nunmehr in Abänderung seiner bisherigen Rechtsprechung klar, dass die widerstreitenden Grundrechte gleichberechtigt miteinander abzuwägen seien. Daher werde kein Vorrang der Schutzinteressen des Betroffenen vermutet. Zudem folge aus dem Gebot, dass der Verantwortliche einer Suchmaschine nicht erst dann tätig werden muss, wenn er von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung des Betroffenen Kenntnis erlangt.

Der Kläger im Verfahren VI ZR 405/18 war Geschäftsführer eines Regionalverbandes einer Wohlfahrtsorganisation. Im Jahr 2011 wies der Verband ein finanzielles Defizit von knapp einer Million Euro auf. Kurz zuvor hatte sich der Kläger krankgemeldet. Über beides berichtete seinerzeit die regionale Tagespresse unter Nennung des vollen Namens des Klägers. Dieser begehrt nunmehr von der Beklagten als der Verantwortlichen für die Internetsuchmaschine "Google", es zu unterlassen, diese Presseartikel bei einer Suche nach seinem Namen in der Ergebnisliste nachzuweisen. Die Klage blieb durch alle Instanzen hinweg erfolglos.

Der Kläger habe keinen Anspruch auf Auslistung der streitgegenständlichen Ergebnislinks aus Artikel 17 Absatz 1 der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO). Dieser Auslistungsanspruch erfordere nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 06.11.2019, 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II) eine umfassende Grundrechtsabwägung. Diese sei auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalles und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person einerseits, der Grundrechte der Beklagten, der Interessen ihrer Nutzer und der Öffentlichkeit sowie der Grundrechte der Anbieter der in den beanstandeten Ergebnislinks nachgewiesenen Inhalte andererseits vorzunehmen.

Da im Rahmen dieser Abwägung die Meinungsfreiheit der durch die Entscheidung belasteten Inhalteanbieter als unmittelbar betroffenes Grundrecht in die Abwägung einzubeziehen ist, gilt laut BGH keine Vermutung eines Vorrangs der Schutzinteressen des Betroffenen. Vielmehr seien die sich gegenüberstehenden Grundrechte gleichberechtigt miteinander abzuwägen. Daraus folge aber auch, dass der Verantwortliche einer Suchmaschine nicht erst dann tätig werden muss, wenn er von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung des Betroffenen Kenntnis erlangt. An seiner noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten der DS-GVO entwickelten gegenteiligen Rechtsprechung halte der BGH insoweit nicht fest.

Nach diesen Grundsätzen hätten die Grundrechte des Klägers auch unter Berücksichtigung des Zeitablaufs im konkreten Fall hinter den Interessen der Beklagten und den in deren Waagschale zu legenden Interessen ihrer Nutzer, der Öffentlichkeit und der für die verlinkten Zeitungsartikel verantwortlichen Presseorgane zurückzutreten. Dabei, so der BGH, komme der fortdauernden Rechtmäßigkeit der verlinkten Berichterstattung entscheidungsanleitende Bedeutung für das Auslistungsbegehren gegen die Beklagte zu.

Im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des vorliegend unionsweit abschließend vereinheitlichten Datenschutzrechts und die bei Prüfung eines Auslistungsbegehrens nach Artikel 17 DS-GVO vorzunehmende umfassende Grundrechtsabwägung könne der Kläger seinen Anspruch auch nicht auf Vorschriften des nationalen deutschen Rechts stützen.

Im Verfahren VI ZR 476/18 hat der BGH dem Europäischen Gerichtshof mehrere Fragen zum Recht auf Vergessenwerden zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Bundesgerichtshof, Entscheidungen vom 27.07.2020, VI ZR 405/18 und VI ZR 476/18

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