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Protestaktionen gegen AfD-Bundesparteitag: Polizeiliche Maßnahmen teilweise weiter aufzuklären

03.04.2024

Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor polizeiliche Maßnahmen gegenüber ihren Teilnehmern ergriffen werden können. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Zusammenhang mit dem Bundesparteitag der AfD im Jahr 2016 entschieden.

Die Polizei hatte im Vorfeld des am 30.04. und 01.05.2016 auf dem Gelände der Messe Stuttgart veranstalteten AfD-Bundesparteitags Kenntnis erlangt, dass 850 bis 1.000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum Zufahrtswege blockieren und schwere Ausschreitungen begehen wollten. Am Morgen des 30.04.2016 besetzte eine mit 13 Bussen angereiste Gruppe von mehreren hundert teilweise vermummten, fast ausschließlich schwarz oder mit weißen Einmalanzügen bekleideten Personen, die gegen die AfD gerichtete Transparente mit sich führten, einen Kreisverkehr in der Nähe der Stuttgarter Messe. Sie errichteten Barrikaden und zündeten Pyrotechnik. Die Gruppe bewegte sich sodann auf einer Zufahrtsstraße weiter auf das Messegelände zu und wurde dort durch Polizeikräfte eingekesselt.

Die Personen – unter ihnen der Kläger – wurden einzeln aus der Einkesselung herausgeführt, mit Einwegschließen hinter dem Rücken gefesselt und in Bussen zu der in einer Messehalle eingerichteten Gefangenensammelstelle verbracht. Der Kläger wurde dort in der Mittagszeit einer Identitätsfeststellung und erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Nach Abnahme der Fesseln wurde er in einem Gefangenenbus eingeschlossen. Am Abend wurde ihm ein Platzverweis erteilt und er wurde zu dem circa 16 Kilometer entfernten Bahnhof in Esslingen verbracht.

Der Kläger hat die Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen begehrt. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen hat der Klage stattgegeben. Wegen der Sperrwirkung ("Polizeifestigkeit") des Versammlungsgesetzes (VersG) hätten die im Wesentlichen auf das Landespolizeirecht gestützten Maßnahmen nur nach vorherigem Erlass einer Auflösungsverfügung gemäß § 15 Absatz 3 VersG ergehen dürfen.

Auf die Berufung des Landes Baden-Württemberg hat der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim das verwaltungsgerichtliche Urteil geändert und die Klage zum größten Teil abgewiesen. Eine Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes habe nicht bestanden, weil die Protestaktion eine "Verhinderungsblockade" dargestellt habe. Deren primärer Zweck sei es gewesen, die Durchführung des AfD-Bundesparteitags mit unfriedlichen Mitteln zu verhindern oder zumindest erheblich zu stören. Bei einer solchen Blockade handele es sich nicht um eine durch das Versammlungsgesetz geschützte Versammlung. Die Maßnahmen seien auf landespolizeirechtlicher – teils auch auf strafprozessrechtlicher – Grundlage in rechtmäßiger Weise vorgenommen worden. Rechtswidrig seien das Nichtermöglichen eines Toilettengangs und das Vorenthalten von Trinkwasser gewesen.

Das BVerwG hat der Revision des Klägers in Teilen stattgegeben und sie im Übrigen zurückgewiesen. Der VGH habe die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes in Gestalt des Auflösungsvorbehalts aus § 15 Absatz 3 VersG zu Unrecht unter Verweis darauf verneint, dass es sich bei der in Rede stehenden Protestaktion um eine "Verhinderungsblockade" und damit nicht um eine Versammlung im Sinne des Artikels 8 Grundgesetz (GG) und des § 1 Absatz 1 VersG gehandelt habe. Denn nach seinen Feststellungen seien in der Personengruppe Transparente hochgehalten und Sprechchöre skandiert worden, die unzweifelhaft öffentliche Meinungsbekundungen darstellten. Diese Versammlung sei jedoch nicht dem Schutzbereich des Artikels 8 Absatz 1 GG unterfallen, weil die Versammlungsfreiheit nur das Recht gewährleistet, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach den tatsächlichen Feststellungen des VGH habe die Versammlung von Anfang an einen unfriedlichen Charakter. Mit Blick auf Artikel 8 Absatz 1 GG bedürften jedenfalls solche Versammlungen, die von Beginn an unfriedlich sind, vor einer Anwendung des allgemeinen Polizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Absatz 3 VersG.

Trotz der Anwendbarkeit des Landespolizeirechts erweise sich die Entscheidung des VGH in Bezug auf die Fesselung des Klägers in der Zeit von seiner Ankunft in der Gefangenensammelstelle am Morgen des 30.04.2016 bis zu seiner Identitätsfeststellung und erkennungsdienstlichen Behandlung am Mittag sowie in Bezug auf die Aufrechterhaltung des polizeilichen Gewahrsams vom Nachmittag bis zum Abend und die Verbringung nach Esslingen als bundesrechtswidrig, so das BVerwG weiter. Diesbezüglich sei der VGH den Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung nicht gerecht geworden, die sich aus der durch Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG garantierten Unverletzlichkeit der Freiheit der Person ergeben. Insoweit musste das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden, um diesem Gelegenheit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Dauer der Freiheitsentziehung sowie ihrer näheren Umstände zu geben.

In Bezug auf die übrigen polizeilichen Maßnahmen, die laut BVerwG nicht zu beanstanden waren, blieb die Revision des Klägers erfolglos.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.03.2024, BVerwG 6 C 1.22

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