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Prostituierte gibt ihr Gewerbe auf: Anspruch auf Jobcenter-Leistungen

20.07.2022

Das Erbringen sexueller Dienstleistungen kann als selbstständige Tätigkeit ein EU-Aufenthaltsrecht in Deutschland vermitteln. Es berührt jedoch in besonderer Weise die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der Prostituierten und ist grundsätzlich unzumutbar. Das Aufgeben der Prostitution stelle deshalb keine freiwillige, selbstverschuldete Beendigung der Erwerbstätigkeit im Sinne der Vorschriften zum EU-Freizügigkeitsrecht dar, so das Sozialgericht (SG) Berlin. Die 32-jährige bulgarische Klägerin behalte aus diesem Grunde ihr Aufenthaltsrecht als ehemalige Selbstständige, obwohl sie ihre Tätigkeit bewusst aufgegeben hat. Sie habe damit weiterhin Zugang zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV).

EU-Bürger dürfen sich zwar zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Sie sind jedoch von Jobcenter-Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht nur auf diese Arbeitsuche stützt. Wer hingegen als Arbeitnehmer oder Selbstständiger aufenthaltsberechtigt ist, kann aufstockend Leistungen beziehen. Das Aufenthaltsrecht besteht auch nach Beendigung der Tätigkeit fort, sofern die Arbeitslosigkeit unfreiwillig eingetreten ist beziehungsweise die Beendigung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, die die selbstständige Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es ihr unmöglich oder unzumutbar machen, die Tätigkeit fortzuführen.

Vor diesem Hintergrund kommt es laut SG Berlin vor den Sozialgerichten immer wieder zum Streit zwischen Jobcentern und Personen aus der EU um Umfang und Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen und selbstständigen Tätigkeiten und um die Umstände, die zu deren Ende geführt haben.

Die 1990 geborene bulgarische Klägerin kam 2014 nach Berlin und war hier steuerlich gemeldet auf dem Straßenstrich als selbstständige Prostituierte tätig. Im Juli 2019 gab sie die Tätigkeit auf, da sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war und die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Bis September 2020 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom beklagten Jobcenter Berlin Lichtenberg. Eine Weiterbewilligung lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin habe nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Es fehle insbesondere an einer unfreiwilligen Arbeitsaufgabe, da sie sich bewusst und freiwillig entschieden habe, sich beruflich neu zu orientieren. Hiergegen hat die Klägerin im November 2020 Klage erhoben.

Das SG Berlin hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin und ihren beiden 2008 und 2020 geborenen Kindern für Oktober 2020 bis Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren. Als EU-Bürgerin habe die Klägerin durch ihre selbstständige Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben. Dieses habe auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestanden, da diese unfreiwillig erfolgt sei. Es könne objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.

Doch auch generell sei die willentliche Beendigung der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folge, dass Prostitution als unzumutbar anzusehen sei und von der betroffenen Person nicht ausgeübt werden müsse, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Beende ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er die Tätigkeit als nicht zumutbar empfindet, beruhe die Aufgabe der Tätigkeit auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die er nicht zu vertreten habe.

Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt habe. Eine objektiv zumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, werde nicht deshalb zumutbar, weil die Person sie zeitweise ertragen hat.

Wegen des fortwirkenden Aufenthaltsrechts aus ihrer ehemaligen selbstständigen Tätigkeit habe die Klägerin nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Sie und ihre Kinder seien deshalb auch nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann vom Beklagten mit der Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg angefochten werden.

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 15.06.2022, S 134 AS 8396/20, nicht rechtskräftig

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