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Polnische Einzelhandelssteuer und ungarische Werbesteuer: Mit EU-Beihilferecht vereinbar
Die polnische Einzelhandelssteuer und die ungarische Werbesteuer sind mit dem Beihilferecht der Europäischen Union vereinbar. Dies hat die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Juliane Kokott entschieden.
Polen und Ungarn haben direkte Unternehmenssteuern eingeführt, die nicht nach dem Gewinn, sondern nach dem Umsatz berechnet werden und progressiv ausgestaltet sind. Diese treffen vor allem große Unternehmen mit hohen Umsätzen. Die EU-Kommission griff die Steuern an. Sie meint, sie räumten den "zu niedrig besteuerten" kleineren Unternehmen einen unzulässigen Vorteil ein und stellten damit eine Beihilfe dar.
Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hat die Beschlüsse der Kommission für nichtig erklärt. Weder in der polnischen noch in der ungarischen Steuerregelung seien selektive Vorteile und somit staatliche Beihilfen zugunsten umsatzschwächerer Unternehmen zu erkennen. Die Kommission hat gegen die EuG-Urteile Rechtsmittel beim EuGH eingelegt. Kokott schlägt vor, die Rechtsmittel zurückzuweisen und die Urteile des Gerichts zu bestätigen.
Sie verweist auf Urteile des EuGH vom 03.03.2020 (C-75/18 und C-323/18), wonach eine nach dem Umsatz bemessene progressive Besteuerung möglich sei, da die Höhe des Umsatzes zum einen ein neutrales Unterscheidungskriterium darstelle und zum anderen ein relevanter Indikator für die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen sei. Ähnliches müsse für das Beihilferecht gelten. Mangels einschlägiger Unionsregelung falle die Bestimmung der Bemessungsgrundlage und die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren in die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten. Im Grundsatz könne erst eine Ausnahme von diesem autonom gestalteten Steuersystem am Beihilferecht gemessen werden, nicht aber die Schaffung des Steuersystems selbst.
Aus dem Unionsrecht könne keine "normale" Besteuerung abgeleitet werden. Ausgangspunkt könne daher immer nur die Entscheidung des jeweiligen nationalen Gesetzgebers sein, was er als die normale Besteuerung ansehe. In den vorliegenden Fällen sei dies eine progressiv ausgestaltete Ertragsteuer für Einzelhandelsunternehmen beziehungsweise Herausgeber von Werbung, die für die Bemessungsgrundlage auf den Umsatz abstelle. Ein allgemein geltendes Steuergesetz – welches wie hier den Referenzrahmen gerade erst schaffe – könne daher nur eine Beihilfe darstellen, wenn es offensichtlich inkohärent ausgestaltet wurde.
Eine solche Inkohärenz der polnischen Einzelhandelssteuer beziehungsweise der ungarischen Werbesteuer habe das EuG zu Recht verneint. Eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung habe – wie auch eine gewinnbasierte Ertragsbesteuerung – ihre Vor- und Nachteile, betont Kokott. Diese habe aber nicht eine Behörde oder ein Gericht, sondern ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber abzuwägen und zu verantworten. Der Steuergesetzgeber (hier der polnische beziehungsweise der ungarische Gesetzgeber) könne entscheiden, welche Steuer seiner Ansicht nach die geeignete ist. Das Beihilferecht verlange jedenfalls nicht die Einführung der aus Sicht der Kommission geeignetsten Steuer.
Weltweit seien umsatzbasierte Ertragsteuern auf dem Vormarsch, wie auch die von der Kommission vorgeschlagene Digitalsteuer zeige. Diese knüpfe zur Besteuerung von Unternehmen auch an deren Jahresumsatz an. Insofern unterschieden sich die polnische Einzelhandelssteuer beziehungsweise die ungarische Werbesteuer und die geplante EU-Digitalsteuer nicht. Auch ein progressiver Tarif als solcher stelle keine Inkohärenz dar. So seien progressive Tarife bei der Ertragsbesteuerung durchaus üblich, um eine Besteuerung gemäß der finanziellen Leistungsfähigkeit zu erreichen. Dies gelte sowohl für eine gewinnbasierte als auch für eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung. Zwar führten hohe Umsätze nicht zwingend zu großen Gewinnen; jedoch seien hohe Umsätze Voraussetzung für große Gewinne. Daher sei die Differenzierung nicht inkohärent.
Auch die von Ungarn eingeführte Berücksichtigung von ertragsteuerrechtlichen Verlusten im ersten Jahr der Werbesteuer stelle keine Beihilfe dar. Da die Tatsache des Vorliegens von Verlusten im Vorjahr ein objektives Kriterium sei und sich Unternehmen mit Verlusten und mit Gewinnen im Vorjahr im Hinblick auf die Fähigkeit, eine zusätzliche gewinnunabhängige Steuer tragen zu können, unterschieden, sei die Implementierung dieser Übergangsvorschrift ebenfalls nicht inkohärent.
Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofes, Schlussanträge vom 15.10.2020, C-562/19 P und C-596/19 P