Mitglied werden
Suche
Vor Ort
Presse
Menü

Veränderung pro Sekunde

Login
Menü schließen

Menü schließen

Sie sind hier:  Startseite  Bayern  Newsticker-Archiv    Menschen mit Behinderungen: Krankheitsbe...

Menschen mit Behinderungen: Krankheitsbedingte Störungen auf öffentlichen Veranstaltungen grundsätzlich hinzunehmen

04.03.2021

Es ist mit dem Inklusionsgedanken nicht vereinbar, behinderte Menschen allein deshalb von öffentlichen Veranstaltungen gänzlich auszuschließen, weil diese sichtbar anders sind oder durch unwillkürliche Lautäußerungen auffallen. Vielmehr hat die Allgemeinheit diese krankheitsbedingten Störungen zu akzeptieren und hinzunehmen, um einer Diskriminierung entgegenzuwirken. Dies stellt das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg klar.

Die heute 48-jährige Klägerin erlitt im April 2016 einen Schlaganfall. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 sowie das Merkzeichen H (Hilflos) festgestellt und der Pflegegrad 3 anerkannt. Ihren Antrag, auch das Merkzeichen RF (Rundfunkgebührenermäßigung) festzustellen, weil sie öffentliche Veranstaltungen wie Theater- und Kinobesuche aufgrund lauter Schreie nicht mehr besuchen könne, lehnte das beklagte Land Baden-Württemberg ab. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos.

Der Klägerin sei die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig unmöglich, führt das LSG aus. Öffentliche Veranstaltungen seien Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art, die länger als 30 Minuten dauerten. Dazu gehörten nicht nur Theater-, Oper-, Konzert- und Kinovorstellungen, sondern auch Ausstellungen, Messen, Museen, Märkte, Gottesdienste, Volksfeste, Sportveranstaltungen, Tier- und Pflanzengärten sowie letztlich auch öffentliche Gerichtsverhandlungen. Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen sei nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, damit allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist. Maßgeblich sei dabei allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Hilfsmitteln, zum Beispiel einem Rollstuhl, und/oder mit Hilfe einer Begleitperson.

Ausgehend hiervon sei die Klägerin mit ihrem Rollstuhl und einer Begleitperson hinreichend mobil, um an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Soweit sie durch ihre Halbseitenlähmung womöglich Blicke auf sich ziehe und diese selbst von störendem Verhalten berichte, komme es hierauf nicht an. Denn der auf die gesellschaftliche Teilhabe gerichtete Zweck des Merkzeichens "RF" würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn es mit dem Ziel zuerkannt werden könnte, besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen und damit Behinderte quasi wegzuschließen, also gerade ihre Teilhabe zu verhindern. Deshalb stehe das Merkzeichen auch besonders empfindsamen Behinderten nicht allein deshalb zu, weil sie die Öffentlichkeit um ihrer Mitmenschen willen meiden. Indem es gerade nicht darauf ankommen dürfe, inwieweit sich Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen durch Behinderte gestört fühlen, werde einer Ausgrenzung von schwerbehinderten Menschen und damit auch einer Diskriminierung entgegengewirkt.

Da der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein müsse, obliege es ihm, die Art der öffentlichen Veranstaltungen so auszuwählen, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, diesen Veranstaltungen weitestgehend folgen zu können. Somit reiche es nicht aus, dass sich die Klägerin gehindert sehe, Theaterveranstaltungen zu besuchen, weil sie den Abläufen nicht folgen könne, und Kinoveranstaltungen, weil sie durch aggressives Verhalten und laute Rufe auffalle, da sie sich mit den Schauspielern identifiziere.

Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 18.02.2021, L 6 SB 3623/20

Mit Freunden teilen